18
Nick hatte zehn Pfund zugenommen und passte nicht mehr in sein Kostüm.
»Du darfst eben nicht atmen«, erklärte Charlie erbarmungslos.
»Ich kann nicht singen, wenn ich nicht atmen darf«, erwiderte er.
Charlie seufzte ungeduldig, als habe sie es mit einem bockigen Kind zu tun.
»Ich werde einen der Abnäher in der Taille rauslassen. Das müsste genügen«, meinte Grace undeutlich, denn sie hatte Stecknadeln zwischen den Lippen.
»Er hat sich wie ein Verrückter Mut angefressen«, vertraute Charlie ihr an. »Einmal fand ich ihn morgens um vier in der Küche, wo er sich ein Sandwich mit Roter Bete und Erdnussbutter machte. Ich sollte den Kühlschrank vielleicht mit einem Vorhängeschloss sichern.«
Es klopfte, und dann streckte einer der Fernsehleute den Kopf zur Tür herein. »Noch zehn Minuten, Nick.« Er stöhnte.
»Beeil dich, Grace!«, drängte Charlie.
»Ich mache, so schnell ich kann. Es ist nicht einfach, weil man nichts sieht vor lauter Rüschen ...«
Das neckische Hemd steckte in einer schwarzen Röhrenhose, die wiederum in Cowboystiefeln steckte. Grace fand, dass ihr Bruder wie ein Mitglied von Spandau Ballet aussah, aber das konnte sie natürlich nicht laut sagen, denn Charlie hatte das Outfit ausgesucht, nachdem sie sich sage und schreibe neun Videoaufzeichnungen früherer Grand-Prix-Ausscheidungen angesehen hatte. Offenbar waren die alle aus den Achtzigern gewesen.
»Deine Nase glänzt schon wieder, Nick!«, stellte Charlie ärgerlich fest. Sie nahm einen großen Puderpinsel und fuhr ein paarmal darüber. »Du musst aufhören zu schwitzen, okay?«
Nick antwortete nicht. Er stand regungslos wie eine Statue, mit bleichem Gesicht und erweiterten, auf einen Punkt in der Unendlichkeit fixierten Pupillen.
»Nick! Nick! Alles klar?«, fragte Charlie. Auch diesmal antwortete er nicht. »Hör auf damit, Nick! Das ist nicht komisch!« Besorgt wandte sie sich an Grace: »Was zum Teufel ist los mit ihm?«
»Oh, so ist er immer vor einem Auftritt«, erklärte Grace gelassen.
»Was?«
»Er hat Lampenfieber. Für gewöhnlich vergeht es rechtzeitig.«
»Für gewöhnlich?«
»Einmal ist er durch den Notausgang geflüchtet. Stimmt‘s, Nick?«
»Großer Gott!«, hauchte Charlie.
»Aber das war in der Anfangszeit«, ergänzte Grace hastig. »Es ist am besten, ihn in Ruhe zu lassen.«
Doch Charlie sagte: »Er braucht ein bisschen Zuspruch.« Sie baute sich vor Nick auf und klopfte mit den Fingerknöcheln an seine Brust. »Hör zu, Freund! Du wirst in zehn Minuten auf die Bühne gehen. In diesem Moment sitzen zweihunderttausend Menschen vor ihren Fernsehgeräten. Unsere Zukunft hängt davon ab, wie du dich da draußen machst.«
Nick stieß einen tiefen Raubtierlaut aus und würgte dann, als würde er sich in hohem Bogen übergeben. Charlie wich erschrocken zurück.
»Wie wär‘s mit einer Tasse Tee, Schätzchen?«, änderte sie ihre Taktik. »Nein? Oh - ich weiß was: Hasch! Das wird dich entspannen. Ich organisiere dir schnell was, okay?« Sie verließ eilends die Garderobe und winkte hektisch einem vorbeieilenden Mitglied des Aufnahmeteams zu.
»Ich bin gleich fertig«, verkündete Grace und legte geschickt einen neuen Abnäher. Sie hatten letzte Woche in ihrem Kurs alles über Abnäher gelernt: Wie entscheidend sie für die Form eines Kleidungsstücks waren und, noch wichtiger, für den Fall des Stoffes. Natürlich hatten sie sie auf dem großen Zuschneidetisch ordentlich ausgemessen und markiert und dann mit glänzenden Nähmaschinen genäht, doch das hier war ein Notfall, und in einem Notfall musste es eben auch anders gehen. »Ich weiß den Text nicht mehr!«, jammerte Nick. »Ich kann mich nicht einmal an die erste Zeile erinnern!«
»Natürlich kannst du das«, sagte Grace besänftigend. »Du wirst nicht einmal nachdenken müssen. Sobald du die Musik hörst, ist alles wieder da.«
»Diesmal nicht. Ich kann da nicht rausgehen, Grace!«
So panisch hatte sie ihn noch nie erlebt. »Es ist doch nicht anders als bei deinen Auftritten mit den Steel Warriors, Nick.«
Er schaute sie ungläubig an. »Ein Auftritt beim Feuerwehrball vor zweihundert Leuten soll dasselbe sein wie heute? Wie in der Stadthalle von Tuam vor fünfzig Leuten? Du hast doch gehört, was Charlie gesagt hat: Es schauen heute Abend zweihunderttausend zu! Und alle hoffen, dass ich Mist baue! Es ist krank! Ja - total krank!«
Jede Woche würden Zuschauer ihre Stimme abgeben, und jede Woche würde der Kandidat mit den wenigsten Stimmen ausscheiden, bis schließlich der Gewinner übrig bliebe und als Vertreter Irlands zum Grand Prix geschickt würde. Es war, wie Nick sich empörte, eine supergemeine Methode, die sich die Macher ausgedacht hatten, um die blutrünstigen Reality-Show-Freaks zufrieden zu stellen. Und die Nutznießer der Telefongebühren für die Hotline, natürlich.
»Hast du die anderen gesehen, Grace?« Nick deutete mit dem Daumen in die Richtung der übrigen Garderoben. »Sie sind alle um die zwanzig.« Im selben Alter wie Adam. »Sie tragen Leder und BH-Tops und sind bermudagebräunt. Und sie haben alle noch ihre eigenen Haare!« Er schaute sich im Spiegel an. »Und hier bin ich: Ein Altrocker in einem albernen Rüschenhemd, der was über Schmeicheleien singt.«
»Mach dich nicht so runter. Der Song ist gut. Wirklich!«
Er hatte den Text völlig umgeschrieben, hatte Charlie gedroht, alles hinzuschmeißen, wenn sie sich quer legte. Jetzt kam das Wort Schmeichelei nicht mehr vor. Das Lied erinnerte zwar immer noch stark an Dana, aber, wie Nick argumentierte, knüpften die Leute eine bestimmte Erwartung an den irischen Beitrag zum Grand Prix und er wollte sie nicht enttäuschen.
»Sie werden auch zuschauen«, murmelte er.
»Wer?«
»Derek und Vinnie.« Die beiden anderen Musiker der Steel Warriors. »Vinnie hat mich angerufen, um mir Glück zu wünschen - aber er konnte kaum reden vor Lachen.«
»Ich bin sicher, dass das nicht stimmt. Und wenn doch, dann ist er schlicht und einfach neidisch.«
»Sie werden es sich bei ihm zu Hause anschauen. Derek bringt Popcorn und Bier mit. Das Popcorn hat er zweimal erwähnt, Grace!«
»Es schauen auch andere Leute zu, Nick - Leute, die für dich sind«, sagte Grace. »Zum Beispiel sitzen Didi und die Kids draußen im Studio, und sie werden dich anfeuern.«
»Didi hat gesagt, sie will die Hälfte von allem, was ich mit dieser Aktion verdiene«, berichtete Nick. »Charlie drehte fast durch, als sie es hörte. Und Dusty hat gesagt, sie schämt sich so, dass sie nicht mehr in die Schule gehen wird. Sie sagte, mein Auftritt wäre das Schlimmste, was ich je getan hätte.«
Grace wollte sich nicht geschlagen geben. »Aber ... aber ich werde dich anfeuern. Und Ewan und die Jungs werden es genauso tun und Gavin - und Frank.«
»Frank ist nicht einmal gekommen«, erwiderte Nick indigniert. »Und das, nachdem ich ihm das Studioticket besorgt habe. Die Eintrittskarten sind sehr gefragt, weißt du«, setzte er gewichtig hinzu.
»Na ja - er ist im Moment ein bisschen down wegen der ganzen Sandy-Geschichte, Nick.«
Umso mehr, seit er nach seiner Ankunft aus den Staaten, von wo er unverrichteter Dinge und verwirrt zurückgekehrt war, hatte feststellen müssen, dass seine Verlobte mit seiner Kreditkarte vierundsechzig CDs über das Internet bestellt hatte, einschließlich »The Greatest Love Songs Ever«. Das, sagte er, habe ihn am tiefsten verletzt. Grace hatte gehofft, dass er heute Abend auftauchen würde. Er verbrachte zu viel Zeit damit, allein vor sich hin zu brüten und darauf zu warten, dass die Polizei anriefe. Sergeant Daly hatte ihm zu erklären versucht, dass es eine solche Flut von Internet-Betrügereien gebe, dass es Monate dauern könnte. Frank hatte gesagt, das sei ihm egal: Er könne nicht normal weiterleben, solange er nicht wisse, wer Sandy wirklich sei.
»Wo ist Charlie?«, fragte Nick nervös.
»Sie kommt bestimmt gleich wieder.« Vorausgesetzt, dass sie nicht stoned in einer Ecke läge.
»Warum hasst du sie so?«
»Ich hasse sie doch nicht! Ich habe noch nie ein negatives Wort über diese Frau gesagt. Warum behauptest du ständig, dass ich sie nicht leiden kann?«
»Niemand hat je so an mich geglaubt, wie sie es tut, verstehst du, Grace? Ich weiß ja, es ist nur der Grand Prix, aber ich sterbe vor Angst, sie zu enttäuschen. Wenn ich heute Abend rausfliege, mache ich mir keine Gedanken über mich. Na ja - vielleicht doch. Schließlich habe ich eine ganze Menge Arbeit in das Projekt gesteckt. Aber in erster Linie tue ich es für Charlie. Wirklich. Sag mir ehrlich: Glaubst du, dass ich es in die nächste Runde schaffe?«
Grace schaute ihren langen, schlaksigen Bruder in dem Gary-Kemp-Hemd und der in Cowboystiefeln steckenden Röhrenhose an und antwortete, ohne zu überlegen: »Natürlich! Aber, weißt du, ich fand immer, dass rot dir besser steht als weiß ...«
»Ich weiß! Das habe ich Charlie auch gesagt. In Weiß sehe ich aus, als hätte ich Gelbsucht.«
»Hat Ewan heute Abend nicht ein rotes Hemd an?«
»Keine Ahnung.«
»Und du nicht vorhin deine neue, schwarze Nappalederhose, oder?«
Endlich fiel der Groschen. Eine Mischung aus Angst und Mutwillen erschien in seinem Blick. »Sie wird uns umbringen!«
»Wenn wir schnell genug sind, stehst du auf der Bühne, bevor sie es mitkriegt. Beeil dich, Nick!«
Julia schaute sich die Sendung zu Hause in Hackettstown an.
»Gut gemacht, Junge!«, lobte sie, als Nick sich nach seiner Darbietung zu donnerndem Applaus verbeugte. Zugegeben, er war nicht ganz so donnernd wie bei seiner Vorgängerin, aber die hatte auch einen winzigen Minirock angehabt und schamlos mit dem Studiopublikum geflirtet. Echtes Talent hatte sie nicht. Nicht so viel wie Nick, auf alle Fälle.
Als nächster Kandidat kam Duncan mit dem strähnigen Bart und der unvorteilhaften Nase auf die Bühne, und Julia drehte den Ton leiser.
»Mammy? Möchtest du etwas zu trinken?«, rief Michael aus der Küche.
Sie horchte auf. »Ja, bitte.« Vielleicht hatte er Wein mitgebracht oder vielleicht sogar Malt Whiskey.
»Tee oder Kakao?«
Oh. »Kakao.«
»Kommt sofort. Wo hast du den ... ah ja - schon gefunden. Scheiße! Verschüttet!«
Julia seufzte leise. So sehr sie auch dagegen ankämpfte irgendetwas an Michael würde sie immer irritieren. »Da ist er schon!« Er kam mit einem Tablett mit Kakao und Whiskey-Sahne-Pralinen herein, das er schwer atmend vorsichtig von der Seite auf den eigentlich voll belegten Tisch schob.
»Vorsicht, Michael - stoß das Telefon nicht runter!«
»Ich pass schon auf.«
»Und schieb es nicht so weit weg. Ich erwarte nämlich einen Anruf von Bono.« Seit sie angeschossen worden war, hatte sie, was sie brauchte, gern in greifbarer Nähe. Ihr Fuß schmerzte noch immer ein wenig, was die Ärzte allerdings nicht mehr auf die Verletzung zurückführten, sondern als beginnende Arthritis diagnostiziert hatten. Es ließ sich nicht leugnen - sie wurde alt. »Mammy«, begann Michael mit bedeutungsvoller Miene, und sie fragte sich, ob jetzt wieder einer seiner Vorträge käme, die er ihr neuerdings so gern hielt. Sie ließ ihm die Freude und heuchelte Aufmerksamkeit. »Ich finde, du überforderst dich.«
»Ich helfe nur ein bisschen, das ist alles.«
»Spiel es nicht runter. Bono ruft dich an, um Himmels willen!«
»Und Sinead O‘Connor«, ergänzte sie voller Stolz. »Sie ist übrigens besonders nett. Kommst du auch mit, Michael?«
Er hatte den Mund voll Whiskeycreme. »Ich?«
»Es wird ein Ereignis. Tausende von Menschen werden gleichzeitig in Dublin und London auf die Straße gehen! Und wir haben Rockstars und Politiker dafür gewinnen können und zwei Boygroups - die werden wir wohl getrennt marschieren lassen müssen - und ein paar Sieger aus Gameshows. Und jetzt wollen wir noch Sinead und Bono anwerben.«
Es würde die größte Anti-Atomkraft-Aktion seit Jahren werden. Die nach ihren erfolglosen Einzelkämpfen desillusionierte Martine war von einer großen Umweltschutzorganisation in London zum Mitmachen verführt worden. Sie hatte Julia gefragt, ob sie ehrenamtlich zu Hause mitarbeiten wolle. »Broschüren in Kuverts stecken und solche Sachen.« Eine Woche lang hatte Julia wie besessen Broschüren in Kuverts gesteckt, dann jedoch eine Bemerkung in Richtung Altersdiskriminierung fallen lassen, worauf sie für den bevorstehenden Protestmarsch eiligst zur PR-Assistentin befördert worden war.
Es überraschte sie, mit welcher Leidenschaft sie sich in die Arbeit stürzte. Morgens beim Aufwachen konnte sie es kaum erwarten loszulegen, in Dublin und London und Edinburgh anzurufen, um Mitstreiter zu gewinnen. Was hätte wohl JJ zu dem Ganzen gesagt? Wahrscheinlich hätte er es als eine weitere Marotte abgetan wie den Steingarten und den Rosengarten und die Bierbrauerei im Schuppen. Aber er hatte ja schließlich einen Beruf, der ihn ausfüllte. Er hatte die Welt bereist. Sie hockte zu Hause, und ihre einzige Gesellschaft und Beschäftigung war ein kleines Kind gewesen, mit dem sie sich nicht verständigen konnte. Ein Kind, das sie ausdruckslos ansah, als sie einer Eingebung folgend vorschlug, sein Zimmer in der Farbe eines Sonnenuntergangs zu streichen und einen aufgehenden Mond über sein Bett zu malen. Er hatte gefragt, ob er nicht auf ihn herunterfallen würde. Wer?
Der Mond.
Er ist doch nur gemalt, Michael. Es ist ein Phantasiebild. Oh. Kann ich was zu essen haben?
Sie hätte auch gern einen Beruf gehabt - aber das war damals nicht üblich. Und so hatte sie bis jetzt warten müssen. Julia dachte daran, wie sie dieses wichtige Kapitel ihres Lebens um ein Haar verpasst hätte. Sie beschäftigte sich nicht oft mit ihrem dilettantischen Selbstmordversuch - es war ihr viel zu peinlich - und wenn, dann nur, indem sie sich fragte, wo sie mit ihren Gedanken gewesen war. Wahrscheinlich bei JJ, ihrer beständigsten und leidenschaftlichsten Marotte. Nun ja - wenn der Kummer einen in den Klauen hatte, fiel es schwer zu glauben, dass ein neuer Anfang möglich wäre.
»Könntest du mir Autogramme von ihnen beschaffen?«, fragte Michael.
»Wie bitte?« Sie würde ihrem Sohn nie von ihrer Verzweiflungstat erzählen können. Aber das war ja auch nichts, was man seinen Kindern erzählte.
»Autogramme von den Boygroups«, präzisierte er seinen Wunsch. »Für Susan. Sie ist ganz verrückt nach diesen Jungs.«
»Wie gefällt es ihr denn in der Wohnung?«, erkundigte sich Julia. Die ursprünglich ihr zugedachte Garage beherbergte jetzt ihre Enkelin.
»Sehr gut. Allerdings passt ihr nicht, dass wir einen Schlüssel dafür haben. Sie sagt, das beschneide ihre Intimsphäre. Stell dir das vor! Gillian hat ihr erklärt, dass sie da bei ihr auf Granit beiße.«
»Sehr gut!«, lobte Julia indigniert. »Sie hat völlig Recht. Das Kind ist erst dreizehn. Ich finde es äußerst liberal von euch, dass ihr sie überhaupt schon allein wohnen lasst.«
»Um die Wahrheit zu sagen - wir hatten gar keine Wahl«, gestand Michael düster. »Sie drohte, sie würde mit Gavin weglaufen, wenn wir es nicht erlaubten.«
»Dann ist er immer noch aktuell?«
»Mmm. Charlie kommt am Wochenende zum Essen. Sie sagte, sie wolle uns ›offiziell‹ kennen lernen.« Michael verdrehte die Augen. »Sie und Gillian an einem Tisch - das kann was werden ...«
Julia räusperte sich. »Wie geht es Gillian?«
»Ganz gut. Sie hat den Dreh jetzt raus mit den Spritzen. Wenigstens fällt sie nicht mehr in Ohnmacht.« Wie das Schicksal es wollte, hatte Gillian sich, als sie an jenem Tag das Festivalgelände verließ, an einem Stacheldrahtzaun verletzt. Bei einer anschließenden Blutuntersuchung hatten sich Abnormalitäten herausgestellt, die nichts mit dem Stacheldraht zu tun hatten. Es wurden weitere Untersuchungen gemacht, und schließlich stellte sich nach fünfzehn Jahren irrationaler Ängste vor Krankheiten, lästiger Symptome und Fehldiagnosen heraus, dass Gillian an Diabetes litt.
»Die Arzte können es immer noch nicht begreifen.« Michael schüttelte den Kopf. »Für gewöhnlich wird dieses Leiden bei Menschen ihres Alters durch Übergewicht und übermäßigen Süßigkeitenkonsum ausgelöst - aber Gillian hat Süßes nie gemocht.«
»Ich nehme an, sie muss jetzt regelmäßig essen«, sagte Julia.
»Alle drei Stunden - um den Blutzuckerspiegel konstant zu halten. Sie hat immer einen Wecker bei sich, damit sie es nicht vergisst und ins Koma fällt.«
»Könnte das denn so ohne weiteres passieren?«
»Wer weiß? Und sie hat auch zwei Mars-Riegel in der Handtasche, falls sie in eine Überschwemmung oder einen Hurrikan gerät oder in der chemischen Reinigung besonders lange in der Schlange warten muss.« Nach kurzem Überlegen fügte er hinzu: »Weißt du, was? Ich habe sie seit Jahren nicht so glücklich erlebt.«
Julia nippte an ihrem Kakao und fragte dann: »Sie weiß nicht, dass du hier bist, stimmt‘s?«
»Ähhh ...«
»Ich möchte keine Missstimmung zwischen dir und Gilian auslösen, Michael.« Jedenfalls keine größere, als sie bereits ausgelöst hatte.
»Das tust du nicht.«
»Es ist nicht fair, hinter ihrem Rücken hierher zu kommen.«
Nach dem Festival hatte er sich einen ganzen Monat nicht blicken lassen. Sie hatte sich schon gefragt, ob sie ihn wohl jemals wiedersehen würde, als sie eines Tages seinen Jeep halb versteckt hinter der großen Ulme an der Straße entdeckte. Es saß niemand drin. Sie dachte gerade, dass sie sich vielleicht geirrt hatte, als sie ihren Sohn gebückt durch den Garten schleichen sah. Amüsiert beobachtete sie, wie er auf ihren Öltank kletterte, ins Haus spähte und sich auf dem gleichen Weg wieder entfernte. In der folgenden Woche stahl er sich erneut durch den Garten. Diesmal mit einem Werkzeugkasten. Als sie hinausging, um ihn zur Rede zu stellen, fand sie ihn in einem der Einsteigschächte. »Was tust du da, Michael?«
»Ich überprüfe die Fallrohre«, gestand er mit einem verlegenen Lächeln. »Und du musst für den kommenden Winter Heizöl zukaufen.«
Danach kam er einmal in der Woche. Sie fragte sich, womit er Gillian seine regelmäßigen Ausflüge wohl erklärte. Mit Golf spielen, vielleicht.
»Was soll ich denn machen?«, fragte er verstimmt. »Nicht mehr herkommen? Du bist dreiundsiebzig, um Himmels willen - und du bist meine Mutter!«
»Das zählt nicht, Michael.«
»Was?«
»Ich möchte nicht, dass du etwas tust, weil du dich dazu verpflichtet fühlst, denn mit Verpflichtungen ist es so eine Sache. Sie können einen blockieren, daran hindern zu tun, was man tun möchte. Sie können einen aggressiv machen und dazu bringen, die Menschen zu vernachlässigen, die einem eigentlich am wichtigsten sind.«
»Du hinderst mich an gar nichts«, protestierte er. Sie schaute in sein rundes, offenes Gesicht und suchte nach den richtigen Worten. Mein Gott, war das schwierig. Ihre Beziehung beinhaltete nicht, dass sie miteinander sprachen. Nicht im Sinne des Wortes.
»Ach nein? Du sitzt hier bei einer alten Schachtel, während du eigentlich zu Hause bei deiner Frau und deiner Tochter sein solltest.«
»Susan ist mit Charlie und Gavin ins Fernsehstudio gefahren, um sich Nick anzusehen. Du würdest nicht glauben, wie sie sich kostümiert hat!«
Julia versuchte es noch einmal. »Dann solltest du bei Gillian sein.«
»Gillian ist heute Abend bei ihrer Diabetes-Selbsthilfe-Gruppe. Die Zusammenkunft findet am selben Tag statt wie das Meeting der Tinnitusgruppe - ist das nicht Pech?«
»Michael - ich versuche dir zu sagen, dass Gillian vielleicht Recht hatte. Vielleicht war ich tatsächlich nicht die beste Mutter der Welt.«
Er schaute sie an. »Vielleicht war ich auch nicht der Sohn, den du dir gewünscht hast.«
»Das ist nicht wahr.«
»Es fiel mir nie etwas Interessantes zu sagen ein.« Er lachte auf. »Und wenn doch einmal, kam Daddy mir zuvor. Er hatte eine echte Begabung dafür.« Michael senkte den Blick auf seinen Kakaobecher. »Ich vermisse ihn.«
»Ich auch.«
»Aber als er nicht mehr da war, dachte ich, du würdest jemanden brauchen. Ich sah es als eine Chance für mich, Mammy. Gillian hält mich für einen Jammerlappen.«
»Und mich für eine blöde Kuh.« Julia hatte etwas Schnodderiges sagen müssen, denn ihre Augen brannten plötzlich bedenklich.
»Das tut sie nicht. Sie hält dich für unsicher.«
»Unsicher? Ich bin dreiundsiebzig und sicher wie eh und je.«
Nach kurzem Schweigen fragte Michael: »Trinken wir noch einen Kakao?«
»Versprichst du mir, dass du danach nach Hause fährst?«
»Ja.« Er nickte. »Danach fahre ich.«
Sie sah ihm zu, wie er das Tablett vom Tisch nahm. »Und was ist mit Gillian?«
»Was soll mit ihr sein?«
»Du musst ihr sagen, dass du mich besuchst - aber dann wird sie mich noch mehr hassen.«
»Sie hasst dich nicht. Sie glaubt, dass du ein Aggressionsproblem hast.«
»Wie kann ich gleichzeitig aggressiv und unsicher sein? Das ergibt keinen Sinn.«
»Es gibt einen Sinn, wenn du eine so genannte passive aggressive Persönlichkeit bist.«
»Hol den verdammten Kakao, Michael.«
»Können wir Schokolade haben?«, fragte Neil.
»Hatten sie heute schon Schokolade?«, erkundigte Grace sich bei Ewan. Sie vergewisserte sich vorsichtshalber. Am Anfang, als alle noch damit zu kämpfen hatten, sich an die neuen Lebensregeln zu gewöhnen - wochentags bei Grace, an den Wochenenden bei Ewan -, hatte Neil bezüglich seines (und Jamies) Schokoladen-, Fastfood-und Fernsehkonsums hemmungslos Kapital aus der Situation geschlagen.
»Nein«, antwortete Ewan. Grace griff nach ihrem Portemonnaie.
»Natürlich nur, wenn wir es uns leisten können«, fügte Neil leise hinzu.
»Armut ist gesund für die Seele«, erklärte Grace ihm.
»Ich hätte lieber einen Haufen Geld als eine gesunde Seele«, meinte Jamie düster.
»Kannst du sie nicht zwingen, wieder zu arbeiten?«, wandte Neil sich an seinen Vater.
»Neil!«
»Lass nur - es ist schon okay, Ewan.« Grace schaute ihre Söhne an. »Ihr wisst, dass ich im Moment studiere. Wenn ich damit fertig bin, gehe ich wieder arbeiten, okay?«
»Ich will dich ja nicht beleidigen, Ma - aber du wirst nicht reich werden, indem du Kleider entwirfst.«
»Es sind nicht nur Kleider. Es ist Mode allgemein. Das schließt Schuhe, Hüte, Sportbekleidung und Unterwäsche ein. Denkt zum Beispiel an die revolutionären Büstenhalter, die in letzter Zeit kreiert wurden!«
Auf den Gesichtern der Jungen malte sich Entsetzen. »Wenn das in der Schule bekannt wird, brauchen wir gar nicht mehr hinzugehen«, sagte Neil zu Jamie. »Die würden uns fertig machen.«
Insgeheim hatte Grace nichts mit Büstenhaltern im Sinn und das nicht nur, weil sie keine mehr trug. Es war der Stoff - wenn man das überhaupt als Stoff bezeichnen konnte -, der sie abstieß. Es gab jetzt sogar BHs mit Plastikträgern, um Himmels willen! Und die Wäschedesigner ignorierten die körperlichen Gegebenheiten größtenteils. Wie sollte ein normaler Po in einem Tangaslip gut wirken? Und die meisten gepolsterten Büstenhalter waren nicht mehr als Regale für müde Busen, die ein wenig mehr Komfort verdienten.
Aber Stoffe, richtige Stoffe, und die Art, wie man sie in einen weich fallenden Rock oder eine elegante Bluse für die vollschlanke Frau verwandeln konnte, brachte sie ins Schwärmen. Und die Vielseitigkeit von Baumwolle! Nachts träumte Grace von ganzen Ballen dieses herrlichen Gewebes, und von Leinen und warmer, weicher Wolle, und wenn sie aufwachte, ertappte sie sich dabei, dass sie ekstatisch an ihrem Laken leckte.
Wenn man sich vorstellte, dass sie ohne Amanda nie auf dieses Metier gekommen wäre! Ihre kleine Lüge hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt und war dort zu einer konkreten Idee herangereift und erblüht und hatte sie zu guter Letzt in den Anschlusskurs am The Design Institute geführt. Natürlich betrachtete Natalie Graces Neuorientierung als ihre Leistung, und nur, weil sie ihr ein Buch über Weiterbildung geschenkt hatte. »Du bist jetzt eine arbeitslose, in Scheidung lebende Frau, und du musst irgendetwas tun, Grace«, hatte sie zu ihr gesagt.
»Er schwitzt es durch. Nick schwitzt mein Hemd durch!«, beschwerte sich Ewan, der den Auftritt auf dem kleinen Fernsehschirm in der Ecke verfolgte. Grace hatte in aller Eile einen Kleidertausch der beiden Männer organisiert, und so trug Ewan jetzt Nicks Gary-Kemp-Hemd - allerdings unter Protest, wie er betonte. Nick sah blendend aus in Ewans rotem Hemd und seiner eigenen schwarzen Nappalederhose.
»Sei still!«, zischte Grace. »Jetzt kommt‘s!« Der Moderator informierte die Zuschauer mit gewichtiger Miene, dass die telefonisch abgegebenen Stimmen zweimal gezählt und die Summen von einem neutralen Preisrichter bestätigt worden seien. Und er konnte jetzt mitteilen, dass die Bewerberin mit dem weißen Minirock und dem verführerischen Lächeln eine Riesenanzahl für sich verbuchen durfte.
»Fünfundzwanzigtausend Stimmen!«, stöhnte Grace. »Die kann Nick niemals toppen!«
»Muss er ja auch nicht«, sagte Neil. »Er darf nur nicht Letzter werden.«
»Hör auf, in mein Hemd zu schwitzen«, beschwor Ewan Nick leise via Bildschirm.
Jetzt wurden die Stimmen für den Bärtigen vorgelesen - neunundzwanzig - und der Moderator machte ihn genussvoll nieder. »Du warst ziemlich miserabel, stimmt‘s, Duncan?« Grace sprang auf und applaudierte. »Er war miserabel! Oh, was für ein Glück!«
»Weniger als neunundzwanzig bekommt Nick auf keinen Fall«, erklärte Neil. »Er hat es geschafft.« Damit machten er und Jamie sich auf die Suche nach dem Süßigkeitenautomaten. Graces Blick war noch immer auf den Fernseher geheftet. »Ist das nicht toll?«, sagte sie.
Ewan zupfte unglücklich an Nicks weißem Rüschenhemd. »Wenn mich bloß niemand damit sieht!«
»Wer soll dich hier drin denn damit sehen?« Es sah ihm gar nicht ähnlich, sich so um sein Erscheinungsbild zu sorgen - und es war besonders unverständlich, da er zusehends zu Bob Geldof mutierte. Grace hatte Recht gehabt: Nach nur drei Monaten zeigten sich bei Ewan bereits alle Anzeichen eines allein lebenden, verschlampten Genies. Seine Künstlermähne endete knapp über dem Hemdkragen und er hatte sich angewöhnt, einen Dreitagebart und verwaschene Jeans zu tragen. Sogar seine Aussprache war lässiger geworden.
Alles in allem wirkte er zehn Jahre jünger. War das nicht zum Kotzen?
Grace hatte noch weiter zugelegt. Inzwischen trug sie XXL, eine Größe, die sie ebenso bequem wie angemessen fand. Da ihr in den Kaftanen jetzt die Beine abgefroren wären, hatte sie für die kalte Jahreszeit herrlich weiche Pullover und weite Hosen in ihrem Kleiderschrank. Ihre Haare waren länger und wunderbar unkompliziert zu handhaben: Sie brauchte sie nach dem Waschen nur lufttrocknen zu lassen. Natalie zuliebe ließ sie sie alle zwei Monate in Form schneiden, doch damit hatte es sich dann. Die Zwillinge aus den Midlands, die »The Power of Love« gecovert hatten, durften sich, wie der Moderator mitteilte, über mehr als achtzehntausend Stimmen freuen. »Pah!«, spuckte Grace - und dann kam eine Werbepause. »Ich fasse es nicht!«
»Das machen sie ganz bewusst, um Spannung aufzubauen«, erklärte Ewan, der Werbefachmann. Er drehte die Lautstärke herunter und wandte sich Grace zu. »Also - das war‘s erst mal«, sagte er übertrieben locker. Sie überlegte, ob er ihr vorschlagen würde, es noch mal miteinander zu versuchen. Am Anfang hatte er es tagtäglich getan, und das wochenlang, doch in letzter Zeit nicht mehr.
»Hast du etwas auf dem Herzen, Ewan?«, fragte sie.
»Ja, das habe ich in der Tat.«
Grace entdeckte einen Schwachpunkt in seinem neuen Image des gepflegten Bohemiens: Der Nasenbügel seiner Brille war mit Tesafilm geklebt. Wahrscheinlich hat er sich wieder mal draufgesetzt, dachte sie, und es stieg eine solche Zärtlichkeit in ihr auf, dass sie beinahe schwach wurde.
Es wäre so einfach. Und so falsch. Denn sie kannte sich: Als Erstes würde sie wahrscheinlich seine Brille zum Optiker bringen.
»Nein!«, stieß sie hervor. »Ich habe das jetzt bestimmt schon hundertmal gesagt. Wirklich, Ewan, ich dachte, wir hätten diese Phase hinter uns.«
Er schaute sie ein wenig erschrocken an. »Ich wollte dich nur fragen, ob ich die Jungs mittwochabends haben könnte.«
»Oh.«
»Zusätzlich zu den Wochenenden, meine ich. Natürlich kann ich auch meinen Anwalt beauftragen, deinem Anwalt deswegen zu schreiben, wenn dir das lieber ist.«
»Nein, nein. Wir müssen es selbstverständlich mit den Jungs besprechen, aber ich bin damit einverstanden. Allerdings verstehe ich es nicht ganz. Sagtest du nicht, du wärst zu beschäftigt, um sie werktags zu nehmen, und wolltest sie darum nur an den Wochenenden?«
»Ich habe nie ›nur‹ gesagt, Grace«, protestierte Ewan. »Du stellst mich ja als total herzlos hin.«
»Tut mir Leid. Aber mit deiner vielen Arbeit...«
»Also - das mit der vielen Arbeit wird sich ändern. Wir haben Slimchoc verloren.«
»Was?«
»Die Nachricht kam letzte Woche.«
»Lag es an dem Slogan?« Dann könnte sie es ihnen nicht verübeln - ihr hatte er auch nicht gefallen.
»Die Firma ist Pleite gegangen. Ich dachte, du hättest es vielleicht in der Zeitung gelesen.«
Grace kaufte gar keine Zeitungen mehr. (Sie hatte wieder angefangen, Bücher zu lesen, im Moment ausschließlich Sciencefiction, und in ihren Tagträumen wurde sie jetzt von dreifingrigen Aliens mit riesigen Penissen gefangen genommen.)
»Bei Tests mit männlichen Ratten in einem amerikanischen Labor wurde festgestellt, dass die Fettaustauschstoffe in Slimchoc nicht nur keinen Gewichtsverlust bewirkten, sondern auch abnormen Haarwuchs und extreme Blähungen. Was es weiblichen Ratten antut, ist noch nicht klar, aber es wird nicht schön sein.«
»Oh, Ewan.«
»Sie haben alles zurückgezogen - die Schokoriegel, die Milchshakes und den Wicked Slimchoc Cake. Den Kaugummi wollten sie eigentlich auf einen Probelauf schicken, entschieden sich dann auf Anraten ihrer Juristen jedoch dagegen.«
»Das war sicher klug.«
»Ja. Also ist der Auftrag gestorben. Aus und vorbei.« Es klang nach Weltuntergang, und er tat ihr Leid.
»Nimm‘s nicht so schwer«, versuchte sie ihn aufzubauen. »Du kommst schon wieder auf die Füße.«
»Du verstehst das nicht: Ich bin froh, dass der Slimchoc-Auftrag geplatzt ist. Ich bin erleichtert.«
»Oh!«
Er schnippte mit dem Finger eine Rüsche von seinem Kinn. »Ich hatte in den letzten drei Monaten viel Zeit zum Nachdenken, Grace. Du hattest völlig Recht damit, dass ich zu wenig für die Jungs da war. Viel zu wenig. Und deshalb habe ich beschlossen, beruflich kürzer zu treten. Mehr Zeit mit ihnen zu verbringen.« Nach einer kleinen Pause setzte er bescheiden hinzu: »Falls das für euch alle okay ist.«
»Die Jungs werden glücklich sein, da bin ich ganz sicher.« Sie überlegte kurz und meinte dann: »Das bedeutet aber auch noch weniger Geld.«
»Sie werden sich damit abfinden müssen«, erwiderte er heftig. »Ich möchte unter keinen Umständen, dass Geldsorgen dich von deinem Kurs abbringen, Grace.«
»Danke.« Sie war gerührt. In ihrem alten Beruf hatte er sie nie so unterstützt. »Stell dir vor: Jetzt arbeiten wir beide kreativ!«
»Was? Oh. Ja.« Er schaute auf seine Uhr. Vielleicht stand sein Wagen an einer Parkuhr. »Also - du bist einverstanden mit der Mittwochsregelung, ja?«
»Absolut.«
»Das heißt, dass wir uns ebenfalls häufiger sehen werden. Ich weiß nicht, ob du das bedacht hast.« Wieder eine bedeutungsschwere Frage.
»Ich bin sicher, dass wir es durchstehen werden«, entschloss sie sich zu einer heiteren Reaktion. »Wir sind uns bisher ja auch nicht an die Gurgel gegangen, oder?«
»Durchaus nicht.« Er schaute sie durch seine geklebte Brille viel sagend an. »Ich glaube sogar, wir haben uns nie besser verstanden.«
»Du willst sagen, wir bestätigen das Klischee, dass man sich nur trennen muss, um die Liebe zueinander neu zu entdecken? Wie langweilig!«, behielt sie ihren heiteren Ton bei.
»Das Wort Liebe habe ich nicht erwähnt.«
Sie kam sich albern vor. »Ich wollte nicht... natürlich werden wir nicht...«
»Es gibt da jemanden, Grace. Ich wollte dir das sagen, bevor du es von anderer Seite erfährst.«
Sie lächelte und nickte begeistert, obwohl ihr weder nach dem einen zumute war noch nach dem anderen. Ihr Mann und sie waren kaum ein paar Tage getrennt, und schon hatte er eine Neue!
»Es ist nichts Ernstes«, setzte er hinzu, als wolle er seine Eröffnung entschärfen. »Ich meine ... wir sind erst ein paarmal miteinander ausgegangen.«
Sie lächelte weiter, während sie sich empört fragte, ob er jetzt vielleicht von ihr erwartete, dass sie sagte, sie freue sich für ihn? Andererseits erschien es ihr doch ein wenig dreist, sich so verletzt zu fühlen, nachdem sie während ihrer Ehe mit jemandem zusammen gewesen war. Trotzdem erschienen ihr bloße drei Monate als, nun ja, unanständig.
»Wie heißt sie?«, fragte sie. Nicht, dass es eine Rolle spielte. Sie wusste ohnehin, dass es eine Sophie oder Clio sein würde, dass sie ebenfalls in der Werbung arbeitete, dass sie und Ewan zwei, nein, eher dreimal beim Japaner gewesen waren und wahrscheinlich bereits miteinander geschlafen hatten. (Hatte er die Sache in Gang gebracht, indem er ihren Nacken leckte, wie er es immer bei Grace gemacht hatte, oder hatte Sophie ihn mit einem »Hör auf!« gestoppt, wie Grace es so oft gern getan hätte, und ihm ein Lederhalsband umgelegt und ihn wie einen Hund bellen lassen?) Sie kicherte.
»Anna«, antwortete er leicht gekränkt. »Sie arbeitet als Hairstylistin beim Film und so.« Ein wenig verschämt setzte er hinzu: »Sie sagt, sie wird keine Ruhe geben, bis ich mir von ihr die Haare schneiden lasse.«
Arme, arme Anna, dachte Grace mit einem Anflug von Mitgefühl für die unbekannte Frau, die, ohne es zu merken, anfangen würde, Ewans Leben für ihn zu organisieren. Schon bald würde sie seine Arzttermine für ihn machen und ihm zwei Brillen zum Preis von einer kaufen. »Ich wünsche dir und Anna viel Glück«, sagte Grace mit der leidenschaftlichen Aufrichtigkeit einer Frau, die gerade noch davongekommen war.
»Danke, Grace!« Er war sichtlich hocherfreut darüber, dass es keinen Ärger mit seiner Ex geben würde. In seiner Erleichterung ging er sogar so weit, sich scherzhaft zu erkundigen: »Und selbst? Zeichnet sich bei dir vielleicht eine kleine Romanze am Horizont ab?«
Es war, als hätte es Adam nie gegeben, als hätte Ewan nie den Verdacht gehabt, dass seine Frau ihn mit einem Zwanizigjährigen betrog.
»O nein«, antwortete sie mit einem freundlichen Lächeln. »Die Jungs und meine Ausbildung lassen mir gar keine Zeit für so was.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Er nickte weise. »Andererseits weiß man nie, was einen hinter der nächsten Ecke erwartet.«
Offenbar würde es ihm nicht das Geringste ausmachen, wenn seine Frau sich wieder mit jemandem träfe. Wieder ein Beweis dafür, wie wenig sie ihm bedeutet hatte - und ihre Ehe.
Zum ersten Mal war sie sich völlig sicher, das Richtige getan zu haben. Für sich selbst und offenbar auch für Ewan, der es sichtlich genoss, wieder auf dem Markt zu sein. Nur Neil und Jamie bereiteten ihr Sorge.
Manchmal dachte sie, es wäre besser, wenn die beiden noch klein wären und nichts begriffen - oder älter, Teenager vielleicht, mit einem besseren Verständnis für die Problematik von Beziehungen. Zehn erschien ihr als das schlimmstmögliche Alter. Sie waren keine Kleinkinder mehr und noch nicht in der Pubertät, und sie wusste nicht, wie sie es ihnen leichter machen könnte.
»Nachtwindeln«, hatte Natalie erklärt.
»Was?«
»Sie haben doch sicher angefangen, wieder ins Bett zu pinkeln. Das tun viele Kinder, deren Eltern sich getrennt haben.«
»Aber nicht mit zehn, Natalie.«
Es schien ihnen gut zu gehen - zumindest oberflächlich. Aber es musste ihnen zu schaffen machen. Wie sollte es das nicht tun? Fest stand, dass sie nicht wusste, was in ihren Söhnen vorging. Sie wusste überhaupt nichts - das hatte sie aus dieser Erfahrung gelernt.
Außer, dass Ewan heute Abend eine Verabredung hatte: Er duftete nach dem Aftershave, das sie ihm letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte, der Idiot. »Triffst du dich heute Abend mit ihr? Mit Anna, meine ich.«
»Ja«, antwortete er leichthin, doch er war nervös, und sein Blick wanderte ständig zwischen dem Bildschirm und seiner Uhr hin und her. »Es ist nur ... ich bräuchte mein Hemd. Ich habe für neun einen Tisch bestellt. Anna isst nicht gern spät.«
Seit wann war er so rücksichtsvoll?
»Dann mach dich lieber auf den Weg«, sagte Grace.
»Ja ...« Mit Leidensmiene zupfte er an dem Spandau-Ballet-Hemd.
»Sieh es als Test«, riet Grace ihm unterschwellig boshaft. »Wenn sie dich wirklich mag, wird sie darüber hinwegsehen.«
Jetzt war er derart verunsichert, dass er völlig vergaß, sich zu verabschieden, als er hinausstürzte. Zehn Sekunden später war er wieder da. »Hi ... ich glaube ... ich denke...«
»Ja - deine Autoschlüssel«, sagte Grace kühl, gab sie ihm und machte ihm die Tür vor der Nase zu. Sie würde ihm vielleicht auch in Zukunft hin und wieder etwas hinterhertragen, doch sie musste nicht mehr so tun, als täte sie es aus Liebe.
Als die Tür eine Minute später neuerlich aufflog, dachte sie im ersten Moment, er käme noch einmal zurück, vielleicht, um sich Kleingeld für die Parkuhr zu pumpen aber es war Nick, frisch von der Bühne und zittrig ob des Adrenalins.
»Na?«, fragte er aufgeregt. »Wie fandest du mich?« Grace schaute ihn schuldbewusst an. Das musste man sich mal vorstellen: Sie war so mit Ewans Enthüllungen beschäftigt gewesen, dass sie nicht einmal wusste, wie viele Stimmen ihr Bruder bekommen hatte. Und seinem Gesicht war nichts zu entnehmen. Sein seltsam starrer Blick konnte ebenso Sieg wie Niederlage bedeuten. »Du warst großartig«, sagte sie, denn damit konnte sie nichts falsch machen. »Du hast keinen Grund, dich zu schämen.«
»Mich zu schämen?«, explodierte er. »Ich war sen-sa-tionell! Sie haben mich geliebt! Sie wollten mich! Und ich hätte gewonnen, wenn dieses Weib nicht seine Reize ausgespielt hätte. Der Beleuchter sagte, ein Mädchen sei vor Begeisterung ohnmächtig geworden. Das wird Vinnie das Maul stopfen.«
Er riss sich Ewans durchgeschwitztes Hemd vom Leib, schmiss es auf den Boden und spuckte für alle Fälle darauf.
Charlie tanzte jubelnd herein. »Der zweite Platz! Was sagst du dazu, Grace?«
»Wunderbar!« Sie war froh, dass sie endlich Bescheid wusste.
»Hey«, sagte Nick zu Charlie. »Heute Abend war es der zweite Platz, aber das ist nicht das letzte Wort. Wir gehen zum Grand Prix, Baby, du wirst sehen. Wir gehen zum Grand Prix!«
Er packte sie und wirbelte sie im Kreis herum, und dann küsste er sie ausgiebig. Grace betrachtete angelegentlich die Decke.
»Nick!«, japste Charlie, als er sie endlich losließ. »Ist das dein Ernst?«
»Natürlich! Was glaubst du, was ich da draußen getan habe? Die Zeit totgeschlagen?«
»Nein, aber ich hatte den Eindruck, du fühltest dich unter Druck gesetzt...«
»Ich brauche das. Ehrlich. Manchmal muss man mich unter Druck setzen, stimmt‘s, Grace?«
»Ich ...«
»Aber manchmal habe ich das Gefühl, dass ich dich zu sehr unter Druck setze.«
»Das ist schon okay. Tritt mich in den Hintern, bis ich ganz oben bin, Baby! Mmmm - du riechst gut.«
»Hör mir zu. Ich möchte, dass du auch glücklich bist. Ich möchte dich nicht zwingen, etwas zu tun, was du eigentlich gar nicht willst...«
»Sie haben mich geliebt da draußen, oder?«
»Sie haben dich vergöttert. Aber bist du sicher, dass du deine Rockmusik nicht zu sehr vermissen wirst? Wie siehst du das, Grace?«
»Ich...«
»Rockmusik? Was zum Teufel ist das? Ein alter Hut! Ich hätte nie gedacht, dass ich mal was Positives über den Grand Prix sagen würde, aber ich habe heute Abend da draußen Achtung gespürt, Mann! Künstlerische Befriedigung! Ich war noch nie vor einem nüchternen Publikum aufgetreten, und es standen mir buchstäblich die Nackenhaare zu Berge«, sagte er mit feuchten Augen. »Das tun sie sogar jetzt noch. Mmmmm, komm zu mir, Baby.«
»Nick ...«
»Ich liebe deinen kleinen Knackarsch.«
An diesem Punkt gab Grace auf und verließ die Garderobe.